Johannes Ludwig - alto sax / soprano sax / clarinet / flute / alto flute / piccolo 

Leo Huhn - alto sax / clarinet / electronics 

Sebastian Gille - tenor sax / soprano sax / clarinet / flute

Uli Kempendorff - tenor sax / clarinet 

Steffen Schorn - baritone sax / bass clarinet / c melody sax / bass flute / contra alto clarinet / tubax

 

Chris Mehler - trumpet / flugelhorn

Bastian Stein - trumpet / flugelhorn

John-Dennis Renken - trumpet / flugelhorn / electronics

Matthias Bergmann - trumpet / flugelhorn

 

Nils Wogram - trombone

Shannon Barnett - trombone

Moritz Wesp - trombone

Jan Schreiner - bass trombone / tuba

 

Pablo Held - piano

David Helm - bass

Fabian Arends - drums

 

Jürgen Friedrich - composition

 

NWOG Records

 

 

Es gibt musikalische Werke, die erschließen sich auf Anhieb. Man hört einmal hin und weiß, was man hat. Und es gibt solche, die wecken unmittelbar Neugier, aber sie wollen wieder und wieder gehört werden, bis sie aus der Tiefe ihrer eigenen Mitte heraus immer mehr von sich preisgeben, um sich am Ende in ihrer ganzen überwältigenden Komplexität zu offenbaren. Zu letzteren gehört Jürgen Friedrichs großangelegtes Programm Semi Song, eingespielt von seinem Large Ensemble.

 

Semi Song ist ein berauschendes Gesamtkunstwerk, welches das Korsett eines normalen Albums – egal ob CD, Vinyl oder Stream – sprengt. Diese Qualität deutet sich schon nach wenigen Takten an. Aber vergessen wir für einen Augenblick den Tonträger, der ja nur ein Medium ist. Es bedarf keiner großen Vorstellungskraft, um den immensen Aufwand an Arbeit zu vergegenwärtigen, der diesem Opus zugrunde liegt. Jürgen Friedrich selbst zieht den Vergleich zu einem Film, in dessen Abspann endlose Reihen von Namen zu sehen sind, die zu so einem Kunstwerk beitragen. Im Fall von Semi Song wäre die Liste jedoch ganz kurz, denn abgesehen von den ausführenden Musikerinnen und Musikern sowie dem aktiv in das musikalische Ergebnis einbezogenen Toningenieur Christian Heck lag die gesamte Arbeit an diesem Mammutprojekt komplett in seiner Hand. Wobei der Vergleich mit dem Film nur teilweise zutreffend ist, denn Semi Song ähnelt eher einer jener epischen TV-Serien der Gegenwart, deren narrative Tiefenschärfe oft weit über das Format eines singulären Films hinausgeht. Jürgen Friedrich beschreibt mit jedem Stück auf dem Album eine in sich geschlossene Geschichte, die trotzdem in einem unmittelbaren Zusammenhang mit allen anderen Stücken des Programms steht.

 

Der Plot und die Dramaturgie all dieser Stücke sind absolut unvorhersehbar. Am Anfang einer Komposition wird niemals verraten, wohin die Reise geht. Unterschiedlichste Komponenten von Farbigkeit, Dichte, Dynamik und Melodik suchen sich in jedem Stück neue Wege. Am Ende eines jeden Tracks wird stets ein Ausgleich aller gestalterischen Elemente angestrebt, wie sich auch am Ende der gesamten Suite ein Kreis schließt. Nach gut 73 Minuten endet Semi Song genau in dem Moment, in dem alles gesagt ist, was zu sagen war. Das Mysterium der Überraschung wird so weit ausgeschöpft, dass es immer wieder greift, selbst wenn der wiederholte Genuss der Musik längst die Grenze vom Neuen zum Vertrauten überschritten hat. Jürgen Friedrich denkt in dieser Hinsicht sinfonisch, denn je öfter man sich auf die Musik eingelassen hat, desto faszinierender wird ihre schier grenzenlose Gestaltungsvielfalt. Genau genommen ist Semi Song ein musikalischer Palimpsest, bei dem sich immer wieder neue Schichten der Wahrnehmung entblättern.

 

Das Jürgen Friedrich Large Ensemble ist ein Orchester der Solisten. Obwohl die Sprache des Komponisten – der hier nicht selbst in die Tasten greift, sondern das Klavier Pablo Held überlässt – absolut im Hier und Jetzt verankert ist, folgt er doch den Tugenden klassischer Großformationen wie des Globe Unity Orchestras oder des Jazz Composers Orchestras. Anders als bei vielen vergleichbaren Formationen der Gegenwart lässt Friedrich den beteiligten Solisten größtmögliche Spielräume. Wenn wir bei dem Bild eines Filmemachers bleiben wollen, liefert Friedrich Skript, Kulissen und Kostüme, überlässt es aber den Akteuren, innerhalb des vorgegebenen Rahmes den Plot nach ihrem Gusto mit Leben auszufüllen. Anders gesagt, der jeweilige Solist ist situativ der Bandleader. 

 

Die Besetzung liest sich wie ein Who is Who des deutschen Jazz, das von Pablo Held bis Uli Kempendorff, Steffen Schorn bis Bastian Stein, Nils Wogram bis Sebastian Gille, von Shannon Barnett über John-Dennis Renken bis Fabian Arends reicht, um nur Einige zu nennen. Ein solches Aufgebot an eigenverantwortlicher Kreativität will der Komponist mit dem größtmöglichen Wirkungsgrad ans Limit seiner Möglichkeiten führen. „Die Soli sollen auch im Kontext des Large Ensembles woanders hingehen können, wenn sie woanders hingehen wollen“, postuliert Klangregisseur Friedrich. „Die Spieler sollen nicht denken, sie hätten die Aufgabe, eine bestimmte Funktion innerhalb der musikalischen Dramaturgie umzusetzen. Das wäre mir schon zu viel der Vorgaben. Alle Beteiligten sollen sich in dieser großen Formation fühlen, als würden sie mit ihrem eigenen Quartett auf der Bühne stehen.“ 

 

Aus diesem Spannungsverhältnis zwischen subtilen Ensemble-Bögen und expressiven solistischen Leistungen ergibt sich eine ungeheure Vehemenz jedes einzelnen Augenblicks. Friedrich setzte an bestimmten Punkten bewusst auf ein Vakuum, das er mit Führungslosigkeit umschreibt, um seine Mitspieler aus der Reserve zu locken. Das geht natürlich nur auf Grundlage größtmöglichen gegenseitigen Vertrauens zwischen dem Leader und den Akteuren. Jürgen Friedrich denkt nicht in Instrumenten oder grundsätzlichen Klangfarben, sondern nur in Personen und Charakteren. Welchen Beitrag kann der jeweilige Musiker oder die jeweilige Musikerin leisten, welche Konstellationen und Kontraste ergeben sich aus den Persönlichkeiten seiner Crew? „Wenn ich das Gefühl habe, eine Person könnte in einem bestimmten Umfeld gern ein Solo spielen, dann frage ich sie. Das passiert völlig unabhängig davon, ob es sich dabei um eine Trompete, eine Posaune oder den Kontrabass handelt. Es geht einzig um die Persönlichkeiten. Die Instrumentenfarben sind dabei schon fast egal.“

 

Jürgen Friedrichs Large Ensemble ist keine Big Band, sondern ein Orchester. Es gibt weder die typischen Bläsersalven noch einen omnipräsenten Rhythmusteppich. Friedrich schöpft das komplette Spektrum eines Orchesters aus und genehmigt sich auch die Zeit, die dazu erforderlich ist. In Zeiten der Krise ist Semi Song ein Glücksfall, denn das Werk erinnert uns daran, dass Kunst – mag sie auch noch so sehr dem Leben abgelauscht sein – auch mal triumphierender Luxus sein darf. Ein Luxus, der keinen Anspruch auf Exklusivität erhebt, sondern sich einfach nur als das offenbart, was es ist: ein großes, ausschweifendes und umfassendes Festival der Sinne.  

 

 

- english -

 

 

Some musical works open themselves up immediately. You listen once and know what you have. And then there are those that arouse your curiosity, want to be heard again and again until they reveal more and more of themselves from the depth of their own center, in order to manifest their overwhelming complexity in the end. Jürgen Friedrich’s large-scale programSemi Song, recorded by his Large Ensemble, belongs to the latter.

 

Semi Song is an intoxicating piece of music whose parts merge together into a complete work of art. It bursts the corset of a normal album – whether on CD, vinyl or via streaming. Indeed, this album hints at this quality after just a few bars. But let’s forget for a moment how the sound comes to us, which is just a medium. It doesn’t take much imagination to visualize the immense amount of work that goes into this opus. Jürgen Friedrich himself draws the comparison to a film, whose credits show endless rows of names contributing to such a work of art. In the case of Semi Song, however, the list would be quite short, because apart from the performing musicians and the sound engineer Christian Heck, who was actively involved in the musical result, the entire work on this mammoth project was entirely in Friedrich’s hands. And yet the comparison with film is only partially accurate because Semi Song is more akin to one of those epic TV series of the present whose narrative depth of field often goes far beyond the format of a singular film. In each piece on the album, Jürgen Friedrich describes a self- contained story that is, nevertheless, directly related to all the other pieces on the program.

 

The plot and dramaturgy of all these pieces are absolutely unpredictable. When a composition begins, the music does not tell us where the journey is going. Different components – of colorfulness, density, dynamics and melodicism – seek new paths in each piece. At the end of each track, the music aspires to find a balance between all its creative elements, just as a circle is closed at the end of the entire suite. After a good 73 minutes, Semi Song ends at the exact moment when everything that needed to be said has been said. The mystery of surprise is exploited to such an extent that it takes hold again and again, even when the repeated enjoyment of the music has long since crossed the border from the new to the familiar. In this respect, Jürgen Friedrich thinks symphonically because the more often one gets involved with the music, the more fascinating its almost limitless variety of forms becomes. Strictly speaking, Semi Song is a musical palimpsest in which new layers of perception keep unfolding.

 

The Jürgen Friedrich Large Ensemble is an orchestra of soloists. Although the language of the composer – who does not take to the keys himself here, but leaves the piano to Pablo Held – is absolutely anchored in the here and now, he nevertheless follows the virtues of iconic large jazz ensembles such as the Globe Unity Orchestra or the Jazz Composers Orchestra. Unlike many comparable ensembles today, Friedrich gives the soloists involved the greatest possible leeway. If we want to stay with the image of a filmmaker, Friedrich provides script, scenery and costumes, but leaves it to the actors to fill the plot with life according to their liking within the given framework. In other words, the respective soloist is situationally the bandleader.

 

The line-up reads like a Who’s Who of German Jazz, ranging from Pablo Held to Uli Kempendorff, Steffen Schorn to Bastian Stein, Nils Wogram to Sebastian Gille, from Shannon Barnett via John-Dennis Renken all the way to Fabian Arends, to name but a few. The composer wants to take such an array of independent creativity to the limit with the greatest possible efficiency. “The solos should be able to go somewhere else even in the context of the Large Ensemble if they want to go somewhere else,” postulates sound director Friedrich. “The players should not think they have the task of implementing a certain function within the musical dramaturgy. That would already be too much of a guideline for me. In this large ensemble all participants should feel as if they were on stage with their own quartet.”

 

This tension between subtle ensemble arcs and expressive solo performances lends each individual moment tremendous vehemence. At certain points, Friedrich deliberately relies on a vacuum, which he describes as a lack of leadership, to draw his fellow players out of their shells. Of course, this only works when the leader and the players have built up great mutual trust. Jürgen Friedrich does not think in terms of instruments or basic timbres, but only in terms of people and characters. What contribution can the respective musician make, what constellations and contrasts result from the personalities of his crew? “If I sense that a person might like to play a solo in a certain environment, then I ask them. That happens completely regardless of whether it’s a trumpet, a trombone or the double bass. It’s all about the personalities. The instrument colors almost don’t matter.”

 

Jürgen Friedrich's Large Ensemble is not a big band, but rather an orchestra. There are neither the typical brass salvos, nor an omnipresent rhythm carpet. Friedrich exploits the complete spectrum of an orchestra and also allows himself the time necessary to do so. In times of crisis, Semi Song is a stroke of luck, because the work reminds us that art – no matter how much it may have eavesdropped on life – can also be a triumphant luxury. A luxury that makes no claim to exclusivity, but simply reveals itself for what it is: a great, extensive and celebratory festival of the senses.